aufmerksam, feminin, glaubhaft

Aufbruch in der Lebensmitte: Unsere vervollständigte Persönlichkeit ist unsere Frucht.

„Es gilt, das Urteil der anderen in der Lebensmitte abzustreifen und zu entscheiden, welcher Weg nun der unsrige sein soll. C. G. Jung spricht sogar von der Suche nach der eigenen Bestimmung. Die Erklärung liegt schon im Wort. Wohin, sagt also die innere Stimme, soll die Reise jetzt gehen?
Diese Stimme ist gar nicht so einfach zu hören. Zu laut ist das Getöse der Vielstimmigkeit im Außen. Zu mächtig die Vorgaben, Wünsche und Konventionen der anderen, der „Herde“, wie Jung sie etwas unfreundlich tituliert. Die Herde, unsere Freunde, Familien, unser Partner, die Kollegen oder sogar die Gesellschaft, kann uns keine Antworten auf unsere Fragen geben. Was sie reproduzieren und wiederkäuen – um im Bild zu bleiben-, ist in der Regel bekannte Konvention. Sie geben uns keinen Hinweis auf unsere Bestimmung. (…)

In der Lebensmitte wenden wir uns dann dem inneren Ursprung und dem Entdecken das ganzen „Selbst“ wieder zu. Das Selbst besteht aus dem Bewussten und dem Unbewussten. Dieses Unbewusste muss in der Lebensmitte erst (wieder) entdeckt, gehört, verstanden und dann in das ganze „Selbst“ integriert werden. Diese Vervollständigung der Persönlichkeit, der „psychischen Ganzheit des Menschen“ in der zweiten Lebensmitte, wird als Quelle für neue Lebenskraft gesehen. (…)

Es braucht Vertrauen in den eigenen Weg, Geduld für die Dauer des Entwicklungsprozesses, ein loyales Ausharren und vertrauensvolle Hoffnung in sich selbst, dass man sich diesen Weg bahnen kann. Wir werden uns nur bewegen, wenn der Leidensdruck hoch ist. (…)

Es ist also innere Arbeit, ein innerer Aufbruch, den wir wagen müssen in der zweiten Lebenshälfte. Diese innere Arbeit wird Früchte für die zweite Lebenshälfte tragen. Suchen wir die Frucht unserer Arbeit also nicht im Außen. Nicht im Gehalt. In der Eigentumswohnung. Nicht im teuren Urlaubsaufenthalt. Wir tragen die Früchte unserer inneren Arbeit ins uns. Unsere vervollständigte Persönlichkeit ist unsere Frucht.“

aus: „Worauf wartest du noch? Eine Ermutigung zum Aufbruch in der Lebensmitte“ von Antje Gardyan, rororo

aufmerksam, glaubhaft

Gorlebener Gebet

Atommüll – An diesem Sonntag passt das Gorlebener Gebet nicht mehr an seinen gewohnten Andachtsplatz im Wald. Rund 250 Menschen sind gekommen, Männer und Frauen in Wanderschuhen, Ältere mit Klappstühlen, Jugendliche in bunten Winterjacken. Sie stellen sich mitten auf den Weg. Der Platz im Wald vor den drei Holzkreuzen ist zu klein an diesem Sonntag.

Viele sind zum ersten Mal hier, sind neugierig, was das wohl sein soll: das Gorlebener Gebet. Andere kommen seit mehr als 20 Jahren Sonntag um 14 Uhr in den Wald hinter dem Erkundungsbergwerk, und zwar so oft wie sie können. Seit 1989 ist noch nie eine Andacht ausgefallen. Im Sommer sind 30 bis 40 Menschen da, im Winter um die 20, erzählt Organisatorin Christa Kuhl. Egal, ob die Sonne brennt oder eisiger Wind durch die Schneise pfeift. An diesem Sonntag ist es kalt, aber die Sonne scheint. Die Teilnehmer stehen im Kreis auf dem Waldweg, es ist unruhiger als sonst. In der Nähe haben sich hunderte Menschen zur Sitzblockade niedergelassen, Botschaften werden über Megaphone durchgegeben, Polizisten und Reporter sind da. Doch die Betenden lassen sich nicht stören.

Stefan und Nadia El Karsheh sind an der Reihe. Das Pastoren-Ehepaar beginnt mit einfachen Liedern mit Gitarrenbegleitung. Strom gibt es hier nicht, die Predigt der beiden muss trotz der Unruhe an diesem Sonntag ohne Lautsprecher verstanden werden. Sie wird verstanden, denn die beiden Wendländer wissen, was Demonstranten brauchen. In der Predigt geht es um den Propheten Elia, den Mann, der sah, was andere nicht sahen, der von Gott beauftragt war und in dieser Rolle als Sonderling galt. „Auch wir hier im Wendland haben einen Prophetenauftrag. Protestieren ist anstrengend. Wir sehen etwas, was andere nicht sehen und haben den Auftrag, es anderen zu erzählen. Und wir sind auch sonderbar“, sagt Stefan El Karsheh. Die Einheimischen lächeln. Die Besucher, die von weiter her gekommen sind, nicken, denn an diesem Wochenende verstehen sie die besonderen Wendländer und ihren standhaften Protest gegen den Castor. Jetzt hier beim Gorlebener Gebet stehen sie nur wenige hundert Meter von der Lagerhalle mit den strahlenden Abfällen entfernt. Die Hallen des Erkundungsbergwerks können sie sehen, und auf dem Weg hierher haben sie erlebt, was es heißt, dass 17.000 Polizisten im Einsatz sind: Sie stehen im Wald, an Brücken, an Straßenkreuzungen. Ausnahmezustand im sonst so ruhigen Kreis Lüchow-Dannenberg mit seinen idyllischen Backstein-Dörfchen. Unruhe, Stress. Sie wollen keinen Atommüll, und sie wollen keine Transporte mehr.

Das Protestieren ist anstrengend. Jedes Jahr wieder Demos, Kundgebungen, Sitzblockaden, Treckerblockaden. Dazu der Frust über „Entscheidungen der Regierung“, Nadia El Karsheh meint die Verlängerung der Atomlaufzeiten, die dem Wendland unzählige weitere Protestaktionen bringen wird. Es ist anstrengend, zermürbend, frustrierend. Bei vielen hier liegen die Nerven blank, ihnen geht es wie dem Propheten Elia: „Er hat sich zum Sterben hingelegt. Das ist konsequent“, sagt Stefan El Karsheh und will damit natürlich niemanden auffordern, es dem Propheten gleichzutun – im Gegenteil: „Es käme dem Sterben gleich, nichts mehr verändern zu wollen“, so versucht er, Mut zu machen. In der biblischen Erzählung bekommt Elia von Gott etwas zu essen. Er ruht sich aus, isst noch einmal und hat daraufhin Kraft für einen 40-Tage-Marsch. „Gott stärke und bewahre Euch mit seiner Kraft“, sagt der Pastor zu den Versammelten und hebt dabei die Hände zum Segen. Dann gibt es ein Abendmahl, einfache Brotscheiben, von denen jeder ein Stück abbricht und dem nächsten sagt: „Gott stärke dich“.

Stärkung durch das Abendmahl

Sie brauchen diese Stärkung. Sie brauchen den Zuspruch, die Gemeinschaft mit den anderen, die Gewissheit, dass ihr Streiten nicht umsonst ist, und dass alle Wendländer „Sonderlinge“ mit ihrem gemeinsamen „Prophetenauftrag“ in die gleiche Richtung marschieren. In der Fürbitte wird um Beharrlichkeit, Frieden, Kreativität und um Bewahrung der Schöpfung gebeten. Dann geht der Pastor durch die Reihen und legt den Teilnehmern die Hände auf den Kopf zum Segen. Ein bewegender Moment.

Von Anne Kampf

Auszug aus einem Text von der Seite http://www.gorlebener-gebet.de.vu/