aufmerksam

Der Tag, an dem Marie plötzlich Halloween vorbereitete

Während der Jahre als Logopädin habe ich gern aus den Geschichten der Familie Klick vorgelesen. Sie stammten aus der Zeitschrift „Hoppla“, der einzigen mir bekannten tatsächlich pädagogisch wertvollen Kinderzeitschrift. Die Bildergeschichten waren stets vier Seiten lang und eigneten sich hervorragend zum Vorlesen. Sie waren nah an der Realität der Kinder, weckten Emotionen, stellten Konflikte dar und gingen immer gut aus. Je nach Therapieziel änderte ich die Texte während des Lesens zugunsten einer hohen Betonung der Verben oder einer grammatischen Struktur. Die Kinder liebten Familie Klick genauso wie ich.
Jede Episode begann mit „Der Tag, an dem Schilda, die großartige, die einzigartige Schildkröte der Familie klick, feststellte, dass……..“ und dann folgt die Moral der Geschicht, die im Folgenden dargestellt wird.
Heute ist der Tag, an dem Marie, die fröhliche, spontane Ehrenamtliche aus Hamburg, feststellte, dass eine Horde temperamentvoller Kinder aus dem Flüchtlingsheim zu Halloween zu Besuch kommen wird. Und das, wo Marie Halloween hasst und für einen dummen konsumorientierten Import  aus den USA hält.
Das Ganze begann vor wenigen Tagen, als ich entgegen meiner eigenen Planung nicht in der Eventfloristik arbeitete, sondern plötzlich einen Tag frei hatte. Nach einigen Stunden am PC zugunsten von Mails und Rechnungen machte ich mich auf, diverse Tüten wegzubringen: Angesammeltes Altglas, Kleider für die Spende, Bettwäsche für das Flüchtlingsheim usw. Im Flüchtlingsheim angekommen, wurde ich sofort von einer Traube Jungs umringt, die sich während der Schulferien schrecklich langweilten. Sie schüttelten mir artig alle nacheinander die Hand und halfen mir sehr eifrig, den Weg zur Kleiderkammer zu finden – was darauf hinauslief, dass sie im Container der Unterkunftsleitung auf dem Flur mit Neuankömmlingen schnackten, bis die passende Mitarbeiterin ihr Gespräch beendete und die Tüte in Empfang nahm. Leider war damit meine Mission bereits beendet, was ihnen gar nicht passte, sodass sie mich bezüglich „Cho… dieses Cho….“ löcherten. Ich kam bald darauf, dass sie Halloween meinten, nachdem sie mir erklärten, sie würden auf der Straße herumlaufen und überall klingeln. Daraufhin fragte ich, ob sie denn etwas zum Verkleiden hätten, was sie verneinten (so ein Zufall, dass ein Flüchtlingsheim nicht mit Kostümen für JedeN ausgestattet ist…). Ich erklärte ihnen, dass ich zu Hause noch einen ganzen Stapel Pappteller hätte, die könnte ich der ehrenamtlichen Chefin des Kinderclubs vorbei bringen, damit sie am folgenden Tag beim Kinderclub gemeinsam Masken basteln könnten (ich war anderweitig unterwegs und konnte nicht dabei sein).
Kurze Zusammenfassung: Marie bringt Spenden weg und hat plötzlich einen neuen Punkt auf der Tagesliste, statt einen abgehakt.
Als nächstes fragten sie mich, wo ich wohne, damit sie bei mir klingeln können, sobald sie ihre Masken haben und der passende Tag für Halloween angebrochen ist. Da es mir allemal lieber war, einen Schwung Flüchtlingskinder in unserem Haus zu haben statt bei Fremden, die womöglich die Polizei rufen, meinte ich, sie könnten ja mitkommen, ich hätte eh genug zu tun und müsse aufbrechen. Daraufhin rannten sie alle in verschiedene Container, um ihre Fahrräder zu holen. Lange Zeit kam niemand wieder, dafür trauten sich langsam die Mädchen raus und unterhielten sich mit mir. Einer der kleineren Jungs fragte mich fünf Mal, wann genau Halloween sei, was ich ihm jeweils mit den Fingern vorrechnete. Als nächstes stellten die Älteren fest, dass Fahrradschlüssel schneller verloren gehen als gedacht und der Hausmeister beim Schlösser aufschneiden helfen müsse. Ich verlor langsam die Geduld und meinte, sie könnten wirklich zu Fuß mitkommen, es sei nicht weit. Mein Fahhrad hatte nur als Transport für die schwere Tüte mit der Bettwäsche gedient. Nein, auf keinen Fall, jetzt müsse der Hausmeister her, der schneidet das Schloss auf. Ich seufzte „Von ein bißchen Fußweg ist noch keiner gestorben,“ aber der Hausmeister antwortete, doch, hier schon.
Einige Zeit später waren ganze zwei Jungs mit Fahrrädern anwesend sowie ein jüngerer mit seinem Roller. Leider gehörte er nicht zur Peer Group der örtlichen Chef-Jungs, sodass sie ihm verboten, mitzukommen. Was mich zu der inzwischen dezent genervten Aussage veranlasste, dass jawohl alle, die fahren könnten, mitkommen dürften, warum denn nicht, bitteschön? Schlussendlich waren wir dann alle unterwegs, mit Rädern, Rollern und auf dem Gepäckträger. Bei sonnigen 12°C waren die Kinder in T-Shirts unterwegs, was ihnen nichts auszumachen schien – im Gegensatz zu der Aussicht ZU FUSS gehen zu müssen. Da ich so langsam fuhr, dass der Jüngste mit dem Roller neben mir das Tempo halten konnte, brauchten wir tatsächlch mehr als fünf Minuten bis zur Haustür….
Dort angekommen prägten sich die Kinder die Hausnummer ein, ließen sich das richtige Klingelschild zeigen sowie die Fenster im passenden Stockwerk. Außerdem besprachen sie sehr professionell mit mir, was sie sagen könnten, wenn sie kämen, damit ich weiß dass SIE es sind, wenn es am Halloween-Abend bei mir klingelt. Glaubt mir, dass weiß ich, aber dennoch einigten wir uns ganz erwachsen auf einen Gruß, den sie mir durch die Gegensprechanlage schreien wollen. Herrlich.

Nächstes Mal, wenn ich Spenden abzugeben habe, werde ich sie bis zur Unkenntlichkeit verkleidet während des Schultags im Flüchtlingsheim vorbei bringen.
Ich hatte einen Punkt auf meiner Liste abgehakt und vier neue hinzubekommen: Mit Kindern durch den Stadtteil radeln, mit einer Ehrenamtlichen telefonieren und das Anfertigen von Masken besprechen, abends Pappteller zu ihr bringen und zwischendurch Familienpackungen Süßigkeiten besorgen.
Dies war also der Tag, an dem Marie, die fröhliche, die spontane Ehrenamtliche aus Hamburg, nur kurz Liegengebliebenes wegschaffen wollte und plötzlich ihren kompletten freien Tag umplanen konnte.

 

AhornGelb

Ich bin sehr, sehr gespannt, was heute Abend passiert…

aufmerksam, glaubhaft

Wofür das Herz schlägt

Vor einigen Wochen habe ich während der ehrenamtlichen Renovierung eines Freizeitheims drei junge Flüchtlinge aus Eritrea kennengelernt. Mich beschäftigt das Flüchtlingsthema in Wellen – meist dann, wenn ich damit unmittelbar zu tun habe. Neben all den anderen fürchterlichen Geschehnissen auf dieser Welt (verhungernde Kinder, weibliche Beschneidung, Sexsklavinnen, Ehrenmorde und getötete indische Säuglingsmädchen) ist die Flüchtlingsproblematik in meinen Augen eine der größten Tragödien der Gegenwart.
Umso wichtiger ist es mir, den Flüchtlingen in meiner Umgebung zumindest für den Moment der Begegnung Respekt und Gastfreundschaft zu erweisen. So organisierte ich spontan einen afrikanischen Liederabend, in der Hoffnung, dass die drei den Mut finden, uns Lieder aus ihrer Heimat beizubringen – meine drei Lieder auf lingala, swahili und zulu waren nämlich alles an Repertoire, das ich auswendig weitergeben konnte. Leider waren die anwesenden KonfirmandInnen begeisterter als die Eritreer, aber einen Versuch war es wert… Einer der drei zeigte uns daraufhin ein sehr langes Lied über das Leben Jesu auf seinem Mobiltelefon auf tigrinya, immerhin.
Mit einem von ihnen unterhielt ich mich viel während der Arbeiten auf dem Gelände über das Leben in Deutschland. Langsam und mit minimalem Wortschatz, damit wir uns verständigen konnten. Besonders die Frage nach einem eigenen Auto beschäftigte ihn sehr… Alle drei lud ich ein, abends in der begrenzten Freizeit zwischen zwei Gebetszeiten mit mir am nahegelegenen See spazieren zu gehen – den hätten sie sonst nie entdeckt. Sie bewunderten den (noch kahlen) deutschen Wald und bedauerten jedes Opfer des letzten Sturms einzeln. Während dessen versuchte ich ihnen zu erklären, welche Beeren an welchen Büschen wachsen und wann – die klimatische Variante von vier Jahreszeiten blieb bis zum Schluss unerklärlich. Ebenso die Höhe einer durchschnittlichen Monatsmiete in Hamburg, was ebenfalls eine Frage während unserer Unterhaltung war.
Trotz der wahrscheinlich traumatischen Erlebnisse während der Flucht wirkten die drei sehr treuherzig. Sie bedankten sich für alles, schlugen tapfer jedes der fremden Lieder in dem ihnen unbekannten Liederbuch auf und verfolgten täglich aufmerksam jede der vier ihnen unverständlichen Gebetszeiten.
Die Begeisterung des Jüngsten, im Gartenteam eine elektrische Heckenschere ausprobieren und mit Ohrschützern in der Nähe des Schredders helfen zu dürfen, war unglaublich. Wenn ich verschwitzt über das Gelände stiefelte, um etwas zu trinken und an eine kurze Pause zu denken, sagte er stets: „Mude? Ich nicht mude (müde)!“ -und lud mich ein, in der Schubkarre sitzend zurück zum Mulchberg zu fahren, um dort Nachschub zu holen (Da mein Körper zu sehr schmerzte, um in einer rumpeligen Schubkarre fahren zu wollen, wurde daraus nichts…).

Zurück zu Hause habe ich noch oft an sie gedacht und enthusiastisch von ihrem Leben erzählt – einfach, weil es so unglaublich ist, was in anderen Teilen der Erde vor sich geht und (gefühlt) niemand hier in Deutschland weiß. Und genauso, unter welchen Bedingungen Flüchtlinge in unserer Nähe leben. Hätte mir eine Freundin von Flüchtlingen aus Weiß-der-Geier-wo und den dortigen Lebensumständen erzählt, wäre es mir wohl ebenso egal gewesen wie es meinen Freundinnen (weitestgehend) egal war. Während ich am vergangenen Sonntag mit einem jungen Mann aus Eritrea mitgefiebert habe, der beim Hamburg Marathon gegen einen Kenianer verlor, wurde mir deutlich, dass letztlich alles von der Begegnung abhängt:
Menschen weisen so lange andere Menschen ab und verweigern ihre Hilfe, bis sie mit einander ins Gespräch kommen. Und sei es mit Händen und Füßen. Auf Augenhöhe.
Hätte ich diese drei Eritreer nicht getroffen, wäre mit das Schicksal der verfolgten Christen sowie der Hunger vor Ort ebenfalls gleichgültig gewesen. Auch so konnte ich nicht viel tun – außer das Gespräch suchen, zum gemeinsamen Spiel am Abend einladen und im Nachhinein eine Mail mit Ideen zum Deutschlernen an den Herrn schicken, der ihnen ehrenamtlich deutsch beibringt.