aufmerksam, feminin

Mut zum Anderssein: Einfach mal was Wildes zum Arbeiten anziehen

Neulich bekam ich ein Buch geschenkt, das ich nicht brauchte, und tauschte es in einem Einkaufszentrum um. Direkt neben dem Buchladen befindet sich H&M, sodass ich entgegen meiner ökologischen Überzeugung aus Spaß einmal durchlief. Und in der Kinderabteilung ein wunderbares kimonoähnliches Überwurf-Dings fand, das so künstlerisch und fröhlich aussah, dass ich mich umgehend verliebte. Für den geselligen Montagnachmittag hatte ich mir ein „Midsommar-Fest“ ausgedacht und brauchte dazu natürlich das passende Outfit. Da ich keine schwedische Tracht besitze (komisch…), zog ich eine weiße Bluse an und das bunte Dings oben drüber. Sommerlich-fröhlich, einen Versuch wert.
Als ich morgens in die Verwaltung kam, um das Postfach zu leeren, schaute ich ganz überrascht in lachende Gesichter, die sich an meiner Kleidung erfreuten und mich mit Komplimenten begrüßten. Ich bedankte mich artig und verwies auf die Kinderabteilung bei H&M…
Nachmittags, während ich noch mit dem Laptop und Beamer für das Foto-Quiz aus Skandinavienurlauben beschäftigt war, begeisterte sich die zweitschlimmste Meckerliese des Hauses über mein „sommerliches Kleid“. Ich doktorte an den Verbindungen der Elektronik herum und sie erzählte allen schon mal, da sie einen guten Blick auf mich, am Boden hockend, hatte, wie schick ich heute gekleidet sei. Eine Woche später verwies eine Dame am Montagnachmittag darauf, die wunderbar ich doch letztes Mal ausgesehen hätte.

Ich dagegen hatte mich gefragt, ob dieses künstlerische Dings nicht reichlich albern aussah. Mein Herz hatte es auf den ersten Blick gewonnen, aber in einer Senioren-Residenz gelten bezüglich der korrekten Arbeitskleidung gewisse Regeln. Wildbunte Kimonos, die aussehen, als sei ich unterwegs zur Strandbar, gehören nicht unbedingt zum Dresscode… Dass ein grenzwertig bedrucktes Oberteil aus der Kinderabteilung weit mehr positives Echo hervor rief als eine korrekte Bluse-Hose-Kombi, fand ich interessant. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich mir die ganze Kollektion besorgt, aber leider war sie bereits weitgehend ausverkauft – und in Kindergröße 128 passe ich nun wirklich nicht rein.
Mir legt dieses Erlebnis nahe, dass ich besser aussehe, wirke und wahrgenommen werde, wenn ich die Kleidung wirklich liebe, die ich trage. Das scheint in den Augen anderer wichtiger als regelkonforme Outfits. Immer wieder kommentieren BewohnerInnen meine Kleidung und merken an, dass ich „immer etwas Besonderes“ trüge. Das Überwurf-Dings aus der Kinderabteilung, das im ersten Moment mein Herz berührt hat, scheint dagegen noch einmal eine Klasse für sich zu sein.
Daraus lerne ich: Wenn etwas, das mir zu hundert Prozent gefällt, auf den ersten Blick nicht zum Arbeitsalltag zu passen scheint, ist es dennoch eine bessere Wahl als ein regelkonformer Blazer, der „nur nett“ statt „großartig“ ist.

Welche Kleidungsstücke liebst du und lässt sie aus Angst vor Ablehnung im Schrank hängen? Was muss auf dem Bügel bleiben, statt mit dir die Welt zu erobern? Wann fürchtest du, zu albern, bunt, verrückt, kindisch, sexy oder sonst wie „falsch“ auszusehen, obwohl dein Herz sich danach sehnt?

aufmerksam, feminin, glaubhaft

Ja oder Nein?

Vor zwei Jahren lernte ich sehr plastisch die Schwierigkeit zwischen „Ja“ und „Nein“ kennen: Für einen Urlaub in Tanzania prägte ich mir auf den langen Flügen einige Grundbegriffe auf Suaheli ein. Diese erinnere ich bis heute gut, nur die Wörter „Ja“ und „Nein“ kann ich immer noch nicht sicher zuordnen: „Ndiyo“ ist „Ja“ und „Hapana“ bedeutet „Nein“, für mich völlig willkürlich.

Ich habe den Eindruck, dass wir im Alltag oft mit diesen grundlegenden Begriffen die meisten Schwierigkeiten haben. Auch und gerade in der Muttersprache…
Oft sagen wir „Ja“ zu Aufgaben, um deren Erledigung uns andere bitten, die wir aber eigentlich unattraktiv finden und ihnen wenig Wichtigkeit beimessen. Dagegen sagen wir zu vielen spannenden, neuen und daher unsicheren Herausforderungen sicherheitshalber lieber „Nein“.
Dabei ist die Frage, ob es sich um Bequemlichkeit im Alltag oder tendenziell weibliche Probleme handelt. Ich behaupte, dass Männer zu Pflichtaufgaben, die ihnen jemand anderes aufdrückt, eher „Nein“ sagen als Frauen, die Ablehnung durch Kolleginnen und Freundinnen befürchten, wenn sie sich verweigern. Ob es Unterschiede gibt, wer lieber und öfter aus der Komfortzone kommt und Neues mit einem „Ja!“ anpackt, weiß ich nicht.
So oder so bin ich zutiefst überzeugt, dass insbesondere wir Frauen sehr davon profitieren, wenn wir mit diesen beiden kleinen und doch so weitreichenden Wörtern anders umgehen.

 

Die meisten von uns wissen, dass reiner Fleiß weder besonders gute Ergebnisse noch ein erfolgreiches Vorankommen im Beruf bedeuten. Dennoch summen wir wie fleißige Bienen im Hintergrund, ohne aufzufallen – weder positiv noch negativ. Wir schaffen viel, stellen unsere Leistung aber nie zur Schau (Im Gegensatz zu Männern, die sich gern für Kleinigkeiten feiern lassen). Und manche von uns lassen sich zusätzlich weitere unattraktive Aufgaben von Kolleginnen und Kollegen aufhalsen, die weitere Fleißarbeit, aber nie den „großen Wurf“ bedeuten. Womit wir weiter schön mit den Kulissen verschmelzen und ganz sicher nie auffallen, erst recht nicht positiv. Es könnte ja sein, dass man uns dann schwierige, neue Aufgaben zutraut, an denen wir scheitern könnten, was so peinlich wäre, dass wir lieber schlecht bezahlt im Hintergrund bleiben.
An dieser Stelle wünsche ich uns Frauen viel öfter ein klares „Nein“ gegenüber Vorgesetzten, KollegInnen, Familienmitgliedern und Freundinnen. Wir können nur gewinnen: Mit einem standfesten Auftreten, mehr Freiheit und mehr Entscheidungsspielraum. Alles super Vorteile – warum trauen wir uns so selten?

Außerdem hoffe ich, dass wir immer öfter „Ja“ zu dem Neuen, Ungewohnten, Verheißungsvollen und Beängstigenden sagen. Dass wir „Ja“ zu unseren Talenten sagen, statt zu unseren Gewohnheiten. Ich erlebe, dass nach einem „Ja“ nur sehr selten gleich Wunder zu leisten sind. Meistens geht es Schritt für Schritt in die neue Aufgabe, sodass wir genug Zeit haben, um uns warm zu spielen. Egal, wie groß die Herausforderung wirkt: Wie alles im Leben beginnt sie mit Kleinigkeiten, nicht mit den ganz großen Veränderungen. Und nur sehr selten bedeutet es, tatsächlich den Beruf von heute auf morgen hinzuschmeißen, in eine fremde Stadt zu ziehen und eine Fernbeziehung zu leben (alles drei auf einmal, natürlich!). Wir stellen uns häufig ein ganz großes Drama vor, wenn es an neue Möglichkeiten geht. Dabei brauchen wir wahrscheinlich lediglich den Arbeitsweg zu ändern. Oder drei Wochenenden mit Fortbildungen verbringen. Oder eine halbe Stunde früher aufstehen. Nur sehr selten reißt uns eine neue Perspektive komplett aus dem Alltag und wir müssen plötzlich in Japan eine Modenschau organisieren. Von heute auf morgen, ohne Japanischkenntnisse, dabei warst du bis gestern sieben Jahre lang Vorschullehrerin und kennst weder Designer noch Models.
Du lachst, aber genau so denken wir oft: Wenn ich diese eine Möglichkeit ergreife, dann ändert sich ja mein ganzes Leben. Total. Für immer. Wie anstrengend!

Lasst es uns wagen, Mädels. Immer öfter. Immer mutiger. Und immer freier. Denn es ist unser Leben zu unseren Bedingungen, zu dem wir „Ja“ sagen. Und die Zwänge der anderen, zu denen wir „Nein“ sagen.

 

Schnecke

Egal, wie langsam es voran geht – du triffst die Entscheidungen.

Mehr Gedanken zu einem ähnlichen Thema: Love it – change it – or leave it

aufmerksam, Gäste & Feste, kreativ

Weiße Rosen: Dreimal anders inszeniert

Die „Urban Jungle Bloggers“ suchen diesen Monat nach unserer Lieblingsblume, die in drei unterschiedlichen Arrangements gezeigt werden soll. Da ich gerade noch weiße Rosen aus einem halb verblühten Strauß gerettet habe, boten sie sich für die Aufgabe an.

The Urban Jungle Bloggers asked for our favourite flowers in three different kind of styles: Here are my white roses. First naturally styled, second in a glamorous way and third in blue and white with danish accents.

 

Rose natürlich

 

Die erste Rose bekam Hirtentäschel, Alchemilla (Frauenmantel) und Gras als Begleitung. Die Unterlage bildet eine Baumscheibe, die ich neulich bei Fällungen an der Alster mitnahm. Im Hintergrund verstärkt ein Rebkranz zusammen mit Zapfen das natürliche Motto.

 

Rose Glamour

 

Die zweite Rose inszenierte ich als Kontrast glamourös:
In eine silberne Vase mit Hammerschlagoptik stellte ich die Rose zusammen mit Disteln und Blaubeerzweigen. Weitere Vasen in Bronze und Rosé unterstützen glänzend die eleganten Akzente. Seit ich letztes Jahr in der Eventfloristik gearbeitet habe und sie dort viele verschiedene Gefäße und Vasen in Silber hatten, bin ich wirklich auf den Geschmack gekommen, was glänzende Metallictöne angeht… Ein silberfarbenes Band windet sich um das Arrangement und verbindet die Gefäße.

 

Rose Blau-Weiss

 

Die dritte Rose findet sich mit Astern, einer Bouvardie und Gräsern in einem blau-weißen Setting. Die mundgeblasene Vase verbindet beide Farben und wird von Glasflaschen in Blautönen umrundet. Teller aus dem Service „Amalienburg“ dienen als Basis und zentrieren den Aufbau. Kleine Teller mit dänischen Motiven treten als zusätzliche Blickfänge auf.

Bei den Flower Power Bloggers, FloralFridayFoto, Holundertblütchen und RUMS verlinke ich den Beitrag ebenfalls.

aufmerksam, glaubhaft

Ausrede und Aufschub

„Oft, während ich hier sitze, immer öfter wundert es mich, warum wir nicht einfach aufbrechen – wohin?
Es genügte, wenn man den Mut hätte, jene Art von Hoffnung abzuwerfen, die nur Aufschub bedeutet, Ausrede gegenüber jeder Gegenwart, die verfängliche Hoffnung auf den Feierabend und das Wochenende, die lebenslängliche Hoffnung auf das nächste Mal, auf das Jenseits – es genügte, den Hunderttausend versklavter Seelen, die jetzt an ihren Pültchen hocken, diese Art von Hoffnung auszublasen:
Groß wäre das Entsetzen, groß und wirklich die Verwandlung.“

Max Frisch
gefunden in „Der Andere Advent“, Adventskalender für Erwachsene, 2015

 

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aufmerksam, feminin, glaubhaft

Segen für das alltägliche und neu anbrechende Leben

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Gott segne und behüte dich.
Sie schaffe dir Rat und Schutz in allen Ängsten.
Sie gebe dir den Mut, aufzubrechen und die Kraft, neue Wege zu gehen.
Sie schenke dir Gewissheit, heimzukommen.
Gott lasse ihr Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.
Gott sei ein Licht auf deinem Wege.
Sie sei bei dir, wenn du Umwege und Irrwege gehst.
Sie nehme dich bei der Hand und gebe dir viele Zeichen ihrer Nähe.
Sie erhebe ihr Angesicht auf dich und gebe dir ihren Frieden.
Ganzsein von Seele und Leib.
Das Bewusstsein von Geborgenheit.
Ein Vertrauen, das immer größer wird und sich nicht beirren lässt.
So segne dich Gott, heute und immer.

Amen

(Quelle unbekannt)

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Ich, neu erlebt

Geburtstag30

„Wir möchten etwas tun, aber wir meinen, dass es das richtige Etwas sein muss, und dabei denken wir natürlich an etwas Bedeutendes. Wir sind es, die bedeutend sind, und das Etwas, was wir tun, kann etwas Festliches und Kleines sein: Tote Pflanzen wandern in den Müll; löchrige Socken wandern in den Abfall. Wir werden von Verlusten getroffen und von Hoffnungen angestachelt. Durch die Arbeit mit den Morgenseiten (Anmerkung: einer Art Tagebuch) nimmt unser Leben eine neue und vielleicht buntere Form an. Wer hat diese Azalee gekauft? Woher kommt die plötzliche Vorliebe für Rosa? Stellt das Bild, das du da aufgehängt hast, ein Du dar, auf das du dich zubewegst?
Ihre Schuhe kommen Ihnen abgetragen vor. Sie sortieren sie aus. Ein Flohmarkt in einer Garage wird organisiert, und Sie spielen den Gastgeber. Sie kaufen eine Erstausgabe und investieren in neue Bettwäsche. Ein Freund fragt zum wiederholten Mal, was plötzlich in Sie gefahren ist, und Sie machen den ersten Urlaub seit Jahren.
Die Uhr tickt, und Sie hören sie schlagen. Sie machen bei einem Museum halt, setzen Ihren Namen auf die Liste für den Sporttauchkurs und verpflichten sich, den Samstagmorgen zur Besinnung zu nutzen.
Entweder Sie verlieren den Verstand, oder Sie erobern Ihre Seele. Das Leben ist als Künstlertreff (Anmerkung: Ein Termin mit meiner inneren Künstlerin, um das kreative Bewusstsein zu nähren. Ein Ausflug, ein Spiel.) gedacht. Deswegen wurden Sie erschaffen.“

aus: Julia Cameron, „Der Weg des Künstlers“

Das Buch habe ich in diesem Artikel vorgestellt.

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Blüten im Retro-Look

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Als Mitbringsel für eine Freundin stellte ich einen Blumengruß zusammen.
Im Antiquitätengeschäft hielt ich nach einem passenden Gefäß Ausschau, um die Blüten darin zu arrangieren. Da wir uns lange nicht gesehen hatten, war ich mir unsicher, in welchem Stil ich das Gesteck gestalten sollte.

 

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Ich entschied mich für Retro-Atmosphäre und erstand ein Vorratsgefäß für Nelken (von Wächtersbach). Beim Floristen besorgte ich Gerbera im passenden Orangeton und pflückte unterwegs Efeu, Liguster und junge Weißdorntriebe.
Daraus steckte ich ein Arrangement, bei dem ich die Technik „mit Höhen spielen“ (oft von FloristInnen zitiert) ausprobierte.

 

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Als sie berichtete, dass sie einen Krug im gleichen Design habe, freute ich mich über meine Idee – und das kurzfristig passende Fundstück.

 

Weitere Kreationen aus Blüten gibt es bei Holunderblütchen.

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Mit Gottes Wort von Tag zu Tag

In der Küche der Schwiegerfamilie hängt ein Abreisskalender mit einem Bibelvers pro Tag.
Als ich verschlafen daran vorbei lief, las ich:
„Mit Gottes Wort von Tat zu Tat“

Das erschien mir logisch und sinnvoll, da ich es liebe, „von Tat zu Tat“ unterwegs zu sein. Ich schaffe sehr viel an einem Tag und werde dafür von anderen wertgeschätzt – was dazu beiträgt, dass ich umso mehr tue, um meinem Ruf gerecht zu werden: Arbeitskolleginnen, Freundinnen, Familienmitglieder und Ehrenamtliche aus der Kirchengemeinde – sie alle freuen sich, wenn ich viel leiste und nach dem offiziellen Feierabend im privaten Rahmen Ideen für verschiedenste Projekte liefere und am Besten auch gleich umsetze.
Was aber, wenn nach all der Zeit mit Höchsttempo und großem „Output“ das Motto stattdessen „kaputt“ lautet? Wenn ich mich nach Ruhe und „Input“ sehne? Wenn ich mir bewusst eine Auszeit nehme, um mich um mich selbst zu kümmern statt ständig um andere – wie sieht es dann aus mit dem Motto „Schwungvoll von Tat zu Tat“?

Später stellte ich fest, dass der Kalender tatsächlich den Titel „Mit Gottes Wort von Tag zu Tag“ trägt.
Wie angenehm.
Wie erleichternd.
Wie entspannend.
Wie befreiend.
Wenn ich nach einer intensiven Zeit des Aktiv-seins jetzt einfach mit Gott von Tag zu Tag gehen darf – völlig egal, wie viel „Tat“ denn an einem „Tag“ geleistet wird.
Gibt es ein größeres Geschenk?

 

 

Schafe

Und wenn die „Tat des Tages“ nur aus Kuscheln besteht: Schafe finden das völlig legitim.
Wir auch?

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Täglich betet das Murmeltier

Bei uns in der Kirche haben wir einen freundlichen älteren Mann, der seit Jahren in jedem Gottesdienst das Gleiche betet – mit minimalen Abweichungen. Dazu sei gesagt, dass wir neben Gebeten, die von vorn von den PastorInnen und Gemeindemitgliedern gesprochen werden, auch Gebetszeiten haben, in denen wir vor Gott still sind und laut oder leise beten – wer laut betet, tut dies von ihrem / seinem Platz aus, beendet das Gebet mit „Amen“ und die Gemeinde unterstützt das Gebet ebenfalls mit „Amen“.
Nun betet dieser alte Herr jeden Sonntag laut und dankt Gott für diesen herrlichen Morgen (unabhängig von Wetterlage und politischer Situation), für die Möglichkeit, sich in aller Freiheit im Gottesdienst zu versammeln und dafür, dass Gott auch „in all unsern Schwääächen und Gebreeechen uns naaaahe ist“.
Noch vor einigen Jahren habe ich innerlich mit den Augen gerollt, wenn dieser alte Herr sein Gebet sprach, das zwar frei formuliert ist, aber dem wöchentlichen Gebet der letzten zehn Jahre auf´ s Haar gleicht: Die Schwääächen und Gebreeechen waren mir wohl bekannt, und ich hätte mir allzu oft gewünscht, dass jemand anderes aus der Gemeinde betet und damit die stille Zeit abwechslungsreicher wird. Später habe ich mir vor Augen gehalten, dass er ist, wie er ist, und so von Gott geliebt wird – an ihn sind die Gebete schließlich gerichtet, nicht an mich.

Neulich am Sonntag wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie wertvoll das Gebet dieses Mannes ist:
Es ist wertvoll, unabhängig von der eigenen Laune, dem Wetter und der Wirtschaftslage Gott „für diesen herrlichen Tag“ zu danken. Wir haben mehr Grund zum Danken als zum Jammern, also lasst uns dessen bewusst sein!
Es ist wertvoll, sich vor Augen zu halten, dass Religionsfreiheit ein schwer erkämpftes und in unseren Zeiten umkämpftes Gut ist! Lasst uns den Gottesdienst genießen, statt ihn pflichtbewusst abzusitzen! All die Menschen, die unter Verfolgung und den Auswüchsen eines Regimes leiden und sich nur heimlich unter großer Gefahr zum Gottesdienst treffen können, brauchen unser Gebet.
Es ist wertvoll, von anderen Menschen an „Schwääächen und Gebreechen“ erinnert zu werden, auch wenn es uns selbst gut geht – erstens wird niemand von uns langfristig von Krisen verschont und da ist es hilfreich, zu wissen, an wen ich mich wenden kann: An Gott und an FreundInnen, die für mich einstehen, wenn meine Hoffnung und Zuversicht nicht bis Morgen reicht. Und zweitens gibt es immer jemanden in unserem Bekanntenkreis, die oder der eine schwere Zeit erlebt und von uns Unterstützung verdient. Leider ist in unserer Gesellschaft Leistung, Fitness, Schönheit und Prestige wichtiger als die Weisheit der Vergänglichkeit. Es täte uns gut, öfter darüber nachzudenken – auch darüber, dass wir unsere Gesundheit geschenkt bekommen und sie nicht verdient haben.
In diesem Sinne danke ich für diesen herrlichen Morgen, für Gottes Gegenwart und für die Religions- und Meinungsfreiheit, dank derer ich dies schreiben kann.