Mit meiner französischen Freundin unterhielt ich mich en franςais darüber, welche Schwerpunkte im Unterricht des Gymnasiums / Lycées zu unserer Zeit gesetzt wurden und wie es uns damit erging. Im Überblick die Punkte, in denen wir uns länderübergreifend einig waren:
– Warum wurde (wird?) dem Dritten Reich ein derart großer Schwerpunkt gewidmet – und das nicht nur in Deutschland, wo wir moralisch innerlich alle bis heute zu büßen haben und das Erinnern hochhalten müssen (letzteres finde ich korrekt), sondern auch in Frankreich? Gut, da müssen die Collaborateure büßen und das Vichy-Regime geächtet werden, aber ist das für die heutigen Lucs und Delphines derart wichtig?
Und war es wirklich notwendig, dass ich von der siebten bis zur dreizehnten Klasse ohne Unterbrechung mit dem Nazi-Horror konfrontiert wurde? Wenn nicht in all den schrecklichen Novellen im Deutschunterricht, dann in Geschichte, wenn nicht in Geschichte, dann in Englisch, wenn nicht in Englisch, dann in Sozialkunde, wenn nicht in Sozialkunde, dann in Französisch, wenn nicht in Französisch, dann in Erdkunde (Ländergrenzen!). Hätte ich als dritte Fremdsprache fakultativ Spanisch gewählt: Ich hätte Novellen über den zweiten Weltkrieg gelesen.
Tausend andere historische Themen wurden innerhalb kurzer Einheiten als Doppelstunde durchgewunken:
Die Wiedervereinigung, die Geschichte Europas und der EU, alles vor dem Dritten Reich und alles nach dem Dritten Reich. Es gab in der fünften Klasse eine Lektion zum Mittelalter und in der sechsten eine zu den Ägyptern. Die Antike habe ich bis heute nicht kennen gelernt, die Renaissance nicht, und all den anderen historischen Klumpatsch auch nicht. Wozu auch, solange sich Zwöfljährig weiter damit auseinander setzen, dass sie sich plötzlich für ihre Großeltern schämen sollen. Heutige Zwölfjährige wohl eher für ihre Urgroßeltern.
Ehrlich, Erinnerung ist gut und wichtig, aber SIEBEN JAHRE des Gymnasiums lang? In jedem Fach abwechselnd? Das führt wohl nicht zum erwünschten Erziehungeffekt, eher zu einer großen Ermüdung dem Thema gegenüber. Was ich (fast) ebenso gefährlich finde wie zu wenig Informationen über die eigene Geschichte.
– Warum gibt es keinen Werkunterricht mehr? Und wenn, dann maximal in der Grundschule und/oder in der Hauptschule?
Grundlagen der Zubereitung von Speisen, Grundlagen des Reparierens und ähnliche Alltagsfähigkeiten nützen uns bis heute – wenn wir dazu in der Lage wären und nicht mit Bildschirmen verschmolzen.
– Warum war alles, was ich in sämtlichen sprachlichen Fächern gelesen habe, schrecklich? Welche Zwölfjährige soll sich allen Ernstes zur Bildung ihres Verstandes und ihres Herzens mit den grauslichen Reclam-Heften von E.T.A. Hoffman herumschlagen? Was hat mich „Andorra“ von Max Frisch gelehrt, außer Entsetzen? „Einer flog über das Kuckucksnest“ – was hat mir die unnötig dargestellte körperliche und seelische Gewalt gebracht außer Bildern von enthaarten Hoden psychisch Kranker??? Wozu all die anderen wahlweise grausamen oder grenzwertig pornographischen Inhalte, mit denen man Jugendliche malträtiert? Selbst wenn heutige Heranwachsende da abgestumpfter sind als ich es war: Wozu?
Warum können LehrerInnen diese hormongebeutelten, schlaksigen bis pummeligen menschlichen Wesen nicht mit etwas Auferbaulichem beglücken?
Sie müssen ja nun nicht „Ferien auf Saltkrokan“ von Astrid Lindgren lesen, aber irgend etwas halbwegs Bekömmliches für ihre verwirrten Köpfe und ihre orientierungslosen Seelen – wie wär´s? Und, nein: Es wäre NICHT „zu harmonisch“ für heutige Teenager. In wessen Leben ist es denn „zu harmonisch“? Bittesehr.
– Warum wurde ich von einem männlichen Biologielehrer aufgeklärt, der der Meinung war, der weibliche Zyklus dauere 28 Tage und am 14. Tag passiere der Eisprung, die monatliche Blutung finde drei bis vier Tage statt; fertig mit dem Thema? Nein, nein, nein. Erstens plädiere ich dafür, bestimmte Themen geschlechtergetrennt zu vermitteln, weil es für alle besser ist: Für Mädchen, für Jungs, für Lehrerinnen, für Lehrer. Sollen sich die Lehrer mit pornösen Jungs rumschlagen und die Lehrerinnen sich mit verunsicherten Mädchen. Und sie alle mit Geschlechterklischees.
Die Bio-Lehrerin will ich sehen, die behauptet, es gäbe den einen korrekten weiblichen Zyklus. Den müsste sie vorführen, und daraus würde nichts, weil der perfekte Zyklus nur in männlichen Köpfen und in den Einflüsterungen von Pharmaherstellern existiert. Und das Stellen von jugendlichen Fragen wäre das erste Mal in der Geschichte der sexuellen Aufklärung peinlich, aber ohne Traumata machbar.
– Warum mussten wir in Biologie wochenlang Referate zum Thema „Drogen“ behandeln (mit denen ich bis heute nichts zu tun gehabt habe), aber nie kam das Thema „psychische Erkrankungen“ auf den Tisch? Ich weiß nicht, wie viele Jugendliche sich pro Jahr das Leben nehmen, weil sie depressiv sind und weder sie selbst noch andere es wissen. Keine Ahnung. Aber ich wette: Zu viele. Und ich weiß nicht, wie viele Jugendliche Eltern haben, die psychatrische Hilfe nötig hätten, aber ich wette: Zu viele. Und keineR redet drüber. Dabei könnte in weiterführenden Schulen locker zwei Wochen weniger über Drogen geredet werden und dafür über Psychologie und Psychiatrie. Über „Ritzen, Kotzen, vergewaltigt werden und den ganzen anderen Dreck“. Ich bin mir sicher, es wäre mit dem nötigen respektvollen Umgang vielen eine Erleichterung.
Liebe Schulbehörden, Schulleitungen, Lehrerinnen und Lehrer: DAS ist eure und Ihre Hausaufgabe.
Liebe Marie,
du vergaßest die KMK (Kultusministerkonferenz der Länder), die den ganzen Kram verzapft, sowie die Schulbehörden (die ja erwähnt wurde), die die „Bildungs“pläne erstellen. Denn: Lehrpläne, sowie die Inhaltsorientierung wurde ja zugunsten der Kompetenzorientierung an allen Orten abgeschafft. Und ich meine nicht zum Besseren. Allerdings zeigt schon ein Blick auf die Geschichte der Fremdsprachendidaktik, dass die zu wählenden Fremdsprachen (oh Wunder) schon immer an der politischen Agenda orientiert waren.
Bei uns im Biologieunterricht ging es soweit ich mich entsinne immer nur um die Bienen und deren Schwänzeltanz, den ich bis heute nicht verstanden habe und die Desoxyribonukleinsäure.
Aber ist nicht die Aussage von „pornösen Jungen“ und „verunsicherten Mädchen“ auch schon eine Einordnung in die „Geschlechterklischees“, die unterschwellig kritisiert wird ?
Andererseits könnte man auch Fragen, ob denn das Gymnasium, das idealerweise mit dem Erwerb der Hochschulreife endet, dafür zuständig ist Werkunterricht zu erteilen. Lernt man so etwas nicht so Hause beim Vater oder Großvater? Obwohl da bin ich wohl selbst in die Klischeefalle getappt. Aber ich spreche ja aus weiblicher Perspektive, dann vielleicht doch nicht.
Liebe Heidi,
selbstverständlich sind „pornöse Jungs und verunsicherte Mädchen“ ein Geschlechterklischee, aber manchmal produziere ich sie absichtlich, um zu zeigen, wie allgegenwärtig sie unbewusst sind.
Ich zum Beispiel habe nie vernünftig gelernt, mit eine Säge umzugehen, obwohl mein Vater eine komplette Werkbank hatte, die auch benutzt wurde. Aber ehrlich gesagt ließ ich ihn nach meinen Vorstellungen sägen und leimen, und so die schicken bunten Akzente zum Schluss waren dann selbstgemacht (Geschlechterrollen, ole ole!). Hätte ich in der Schule sägen MÜSSEN, hätte ich es wohl gelernt. Meiner Meinung nach sollte JedeR in der Lage sein, zu kochen, Fahrräder zu flicken, einige grundlegende Reparaturen leisten zu können usw. Kann ich es selbst? Nur partiell. In gewisser Weise glaube ich, dass der Mensch manchmal zu seinem Glück gezwungen werden muss. Ich hätte Werkunterricht wahrscheinlich als körperlich anstrengend empfunden, aber die meisten Jungs wohl ebenso. Dennoch hätten alle profitiert. In einer Gesellschaft, die alles an Dienstleister outsourct und gleichzeitig damit klar kommen muss, dass Ressourcen geteilt werden müssen und insgesamt schrumpfen, sind alltagspraktische Kompetenzen nötig. Wir können nicht für immer alles an Fachleute abgeben, weil das Wirtschaftswachstum begrenzt ist (will keineR hören) und wir uns eines Tages wieder die Hände schmutzig machen müssen. Ganz abgesehen von all denen, die weder jetzt noch später das Geld haben, andere für ihren Haushalt arbeiten zu lassen.
Kurz gesagt: Jede Schulform sollte ein Mindestmaß an Alltagskompetenzen vermitteln. Und Gymnasien sollten weniger elitär die Nase hochhalten, wie es manche tun. Und ob, um meine Tirade zu beenden, die Hochschulreife der Weisheit letzter Schluss ist, um ein erfolgreiches Leben zu führen, ist noch einmal ein ganz anderer Punkt.
Liebe Grüße,
Marie
Liebe Marie,
um meine derzeitiger Tirade (das „Hass-“ denken wir uns, leider unchristlich, mit) bezüglich der Verlogenheit im Universitätsbetrieb Luft zumachen, ist der Erwerb der Hochschulreife und ebenso er eines Hochschulabchlusses oder das Streben nach selbigem, vor allem in dem Bereich der Geisteswissenschaften, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit (zumindest meiner Erfahrung nach)NICHT der Schlüssel zu einem erfoglreichen (Definiere: „erfolgreich“) oder glücklichem Leben. Zumeist ist ganz das Gegenteil der Fall. Denn je oller bzw. elitärer desto doller. Sittlicher und moralischer Verfall an der Universtät an vielerlei Orten. Verstecken hinter dem Fachjargon der feministischen, gender, Queer- und was weiß ich noch alles Theorien, das ewige Kreisen der selben Nachwuchswissenschaftler um die selben Themen in der Rechtfertigung durch Dekonstruktivismus, Poststrukturalismus, und dem ganzen Zeug, das Zitierkartell („alle jubeln sich gegenseitig hoch“), die Imitationsepidemie (Schwanitz, 1997). Die universitäte Entfremdung (vom Stoff, den anderen Menschen und von sich selbst)[aus Uni Bluff und Uni Angst von W. Wagner], die je fortgeschrittner das Semester, desto schlimmer wird, lässt tatsächlich in Gegenwart einer gärtnerischen Tätigkeit oder Sägearbeit oder dergleichen befreit Luftholen. Denn hier weiß man wenigstens was man tut und hat sowohl ein klares Ziel als auch eine konkrete Aufgabe und verliert sich nicht in nebulösen Gedankengebäuden philosphisch anmutender Literaturwissenschaftler, die zu tief in das Glas der Kulturwissenschaften geblickt haben. Diese Gedankengebäude(vor allem die von Judith Butler und Michel Foucault) haben trotz ihrer vermeintlich immanenten Plausibilität, meiner Ansicht nach vor allem die fortschreitende Abkehr vom Worte Gottes und die Selbstrechtfertigung der eigenen (sexuellen) Neigungen zum Ziel. Wenn „wir“ (wer ist „wir“?) uns im Zeitalter der Postmoderne (schon auch in der Moderne) und Dekonstruktion/ (Neu-)konstruktion ständig neu erfinden, „unser“ Geschlecht selbst wählen sollen und es keine absolute Wahrheit (ja tatsächlich,wird dies behauptet) mehr geben soll, bleibt nur zu fragen „Quo vadis?“, wo soll das alles hinführen?
„(…)weil das Wirtschaftswachstum begrenzt ist (will keineR hören) und wir uns eines Tages wieder die Hände schmutzig machen müssen.“
Ja, in der Tat, das sehe ich genauso.
Die Frage ist und bleibt, warum es zumindest am Gymnasium nicht vorgesehen ist, auch alltagspraktische Kompetenzen zu erwerben (wenn man dazu nicht auf Grund anderer Umstände gezwungen ist).
Naja, in England gibt (gab) es ja dafür das Hauspersonal und heutzutage wahlweise auch die Au-pair Mädchen. Wobei man Hauspersonal und Au-pair oftmals gleichsetzen kann (konnte), nur ohne die weiße Schürze. Das elitäre Gehabe dort (oder ist es einfach eine „Tatsache“ und kein Gehabe?) lässt allerdings fragen, warum man dann nach dieserlei Kultur (der englische „Landhausstil“ usw.) strebt oder ihn „gut“ findet oder imitiert, sich davon inspirieren lässt usw. (ich auch), wenn er doch größtenteils ein Produkt dieser elitären Gesellschaft ist, das langsam an die unteren Klassen weitergereicht wurde. Und die Macht dieser elitären Gesellschaft wurde wohl im Viktorianismus überwiegend den Männern und nicht den Frauen zuteil (vgl. „Ein Zimmer für sich“ und „Drei Guineen“ von Virginia Woolf).
Och, dann denkt man einfach an Carl Larsson oder den gustavianischen Stil in Schweden: Das ist optisch so ähnlich wie der viel zitierte Landhausstil, aber die Schweden waren ja immer schon recht freiheitsliebend und demokratisch, also brauchen wir da keine Gewissensbisse zu haben (wenn sie uns als Vorbild dienen). Die Skandinavier waren auch in Sachen Kolonialismus nicht so verrückt wie andere Staaten, mit Personal und Sklaven brauchen wir uns also auch keine Sorgen zu machen, wenn wir gewisse Stilelemente einer Kultur übernehmen.
Carl Larsson hatte außer einer Frau und vielen Kindern definitiv niemanden, der ihm das Leben erleichterte, den als Vorbild zur Gestaltung der Wohnung zu nehmen, ist tatsächlich völlig harmlos.